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Ausstellung

The Manifold Self / Das mannigfaltige Ich

Kurator*in

Fritz Emslander

CV

Fritz Emslander (*1967) studierte Kunstgeschichte, Europ. Kulturgeschichte und Romanistik in Regensburg, London und Hamburg. Seit 2000 ist er Kurator für zeitgenössische Kunst, bis 2009 an der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden, seit 2009 als stellv. Direktor des Museum Morsbroich, Leverkusen. 

Media

Credits: Foto: Jochen Müller, Museum Morsbroich

Künstler*innen

  • Simon Schubert

Ausstellungstext

In einer Zeit der Überforderung durch unablässige Ablenkung und mediale Irritation einerseits, forcierte Selbstinszenierung andererseits stellt Simon Schubert mit seinen analytischen Skulpturen und immersiven Papierarbeiten die Frage nach der Verortung des Selbst. Wo stehe ich und wie kann es gelingen mich meiner selbst zu versichern? Bei der Wandelbarkeit, die uns heute abgefordert wird, kann einem die eigene Identität schon mal entgleiten – wie es Alice passiert, die im alles verwirrenden Land der Wunder auf die Frage wer sie denn sei, nur zu antworten vermag: „ich weiß es kaum, zur Zeit“.

In seinem Selbstportrait von 2014 hingegen konzentriert sich Simon Schubert auf die unabweisbaren Fakten. Er füllt all die einzelnen Substanzen, die sein Körper enthält, in den passenden Mengen fein säuberlich getrennt in Gasflaschen, in Gläser und Phiolen ab: ein Bausatz des Lebens, arrangiert in einer Glasvitrine. Das Display erinnert an ein naturwissenschaftliches Labor, aber auch an einen Schneewittchen-Sarg. Könnte dieser Person, die in ihre biochemischen Bestandteile aufgespalten wurde, wieder Leben, eine Seele eingehaucht werden? 

Schuberts aufrechtstehender Dewarkörper (2024) entspricht wie die Vitrine in etwa seinen Körpermaßen. Verwendet hat er dafür auf den ersten Blick schwer identifizierbare Dewargefäße (nach ihrem britischen Erfinder benannt), die wir in handelsüblichen Thermoskannen finden. Das freigelegte, verspiegelte Innenleben der Kannen verweist indirekt auf das Innenleben der Menschen. Schubert bezieht sich hier auf Leibniz, für den gemäß der Monadenlehre jede in sich abgeschlossene Monade (Seele) aus ihrer Perspektive wie ein lebendiger Spiegel die ganze Welt ausdrücke. Doch er übersetzt diese Idee in unser Zeitalter der fragmentierten Subjektivität: Das skulpturale Gegenüber setzt sich aus einer Vielzahl von Isoliergefäßen zusammen. Der Vervielfachung der denkbar im Inneren gespeicherten – materiellen oder immateriellen – Inhalte entspricht an der Oberfläche ein vielfältig gebrochenes Spiegelbild, in dem sich die Betrachtenden multipliziert wiederfinden. 

Umgeben sind die beiden Skulpturen von jenen virtuosen Papierfaltungen, mit denen Schubert bekannt geworden ist. Er bearbeitet dafür das Papier wie ein Bildhauer, fügt ihm präzise Knicke zu und lässt reliefhafte Zeichnungen entstehen, die – sind sie erst ins richtige Licht gerückt – das flache Blatt ins Räumliche übersetzen und imaginäre Interieurs erschließen. Man wird hineingezogen in lange Korridore und verwinkelte Treppenhäuser, es öffnen sich Türen und Durchblicke in immer neue Innenräume. 

Eine Serie von 24 kleinformatigen Papierfaltungen (Erkerlicht, 2025) veranschaulicht, wie das einfallende, im Tagesverlauf wandernde Licht Räume zur Erscheinung bringt, sie modelliert und verändert. Die Simulation ist täuschend echt, und doch können wir den Ort nicht betreten. Wir wissen auch nicht sicher, ob wir an bestimmten Stellen von Schuberts Faltungen ein Fenster sehen, eine Durchsicht oder doch einen Spiegel oder ein Bild im Bild.

Diese Erfahrung der Verunsicherung, das Spiel mit der Wahrnehmung intensiviert Schubert noch in seinen Papierinstallationen. Eigens für diese Ausstellung ist durch eine Raumabtrennung aus Papier ein neuer, begehbarer Raum ganz aus Papier entstanden. Wir sind eingeladen in eine Parallelwelt einzutauchen, mit weißen Wänden aus gefaltetem Papier, mit doppeltem Boden und optisch erweiterten, perspektivisch über die realen Raumgrenzen hinausreichenden Räumen. Beim Betreten der Installation werden wir Teil einer realen Inszenierung und gleichzeitig Teil der Illusion, die sich hier entfaltet: Die Illusion des Raums im Raum im Raum.  

Zudem scheint sich an allen vier Wänden jeweils in einem von Schuberts Raumspiegeln (2025) eine Art Gegenraum, ein im Vagen gehaltenes, düsteres Schattenreich aufzutun, das sich auffallend von den lichten, linear konstruierten Architektur-Faltungen unterscheidet. Schwere Metallrahmen fassen Räume, die sich in Farbnebeln verlieren und an die opaken Flächen historischer Spiegel denken lassen. Schubert verwendet hier Pigmente, die beim Einreiben in die Papieroberfläche noch ihre Farbe verändern – ein fast alchemistischer Prozess, in dem er die Bilder energetisch und atmosphärisch auflädt. 

Gemeinsam ist Simon Schuberts Interieurs, dass sie keine Orte der Selbstversicherung, sondern solche der Infragestellung sind. Wie die Stücke Samuel Becketts, die ihn in seiner Frühzeit stark beeinflusst haben, führen uns seine Papierräume auf uns selbst zurück und hinein in die Labyrinthe unserer Innenwelt. Begibt man sich in seine fragilen Falträume, die – schwindet das Licht – sich jederzeit wieder im Weiß des Papiers auflösen können, dann schwingt dabei auch die surreale Gefahr des eigenen Verschwindens mit. 

Die implizite Erinnerung an die eigene Vergänglichkeit potenziert Schubert noch durch eine in die Mitte des Papierraums gestellte Vanitas-Skulptur: Seine Zeitkapsel (2025) besteht aus selbst gezüchteten und dann zusammengelöteten Kristallen des Schwermetalls Bismut. Nun ist Bismut nicht gesundheitsgefährdend, aber doch ganz leicht radioaktiv und dabei extrem beständig. Es hat eine Halbwertzeit von nicht weniger als 19 Trillionen Jahren: ein für uns Menschen unermesslicher und auch nach kosmischen Maßstäben kaum fassbarer Zeitraum, nachdem die Zeitkapsel das uns unbekannte Innere freigibt – eine Zeitspanne, die uns ins Nachdenken bringt, vielleicht auch zu Bescheidenheit und Achtsamkeit ermahnt.

Wie die meisterhaft zwischen den Zeiten oszillierenden Interieurs der Schlussszenen von Stanley Kubricks Odyssee im Weltraum scheinen Simon Schuberts Werke den Zwängen von Raum und Zeit enthoben zu sein. Sie weisen Wege in ein ständig wachsendes Gebäude, an dem der Künstler seit längerem arbeitet und das als Ganzes genommen auch als ein komplexes Selbstporträt gesehen werden kann: Jedes seiner Bilder, jede Papierfaltung, jede Grafitzeichnung und Pigmentarbeit versteht der Künstler als Blick in diesen wuchernden Bau, jedes skulpturale Objekt als Einrichtungsgegenstand. Die von ihm in der Galerie eingerichtete Rauminstallation wird für die Dauer der Ausstellung zu einem begehbaren Teil dieses Gebäudes und eröffnet einen vielgestaltigen Raum der Reflexion. 

Schuberts Arbeiten verbinden eine starke physische Präsenz, die zur Konzentration und zum Innehalten einlädt, mit philosophischem Tiefgang, der uns zu Spekulationen anstachelt über die Frage, wer wir sind und in wie vielen Teil(subjekt)en. Und ob es so etwas gibt wie einen Kern, eine Essenz, die wir uns bewahren und auf die wir zurückgreifen können, wenn wir uns wieder zu verlieren drohen. 

Fritz Emslander

 

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