curated
by
Menü
EN
12.9. - 14.10.
THE NEUTRAL
Wien/Vienna
Zurück

Unerzählte Narrative von Noit Banai

Ausgehend von Parteinahme und Paradox:

Die folgenden Überlegungen befinden sich in einem Zustand der Unvollständigkeit und sind bemüht in diesem Grenzgebiet zu bleiben. Die Parteinahme des Archivs ist sowohl eine Bedingung für Gewalt als auch ein Impuls für Hoffnung. Wir sind jetzt im dritten Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts, und trotz – oder gerade wegen – der Behauptung, dass die Globalisierung ein Rekordhoch erreicht hat scheinen verschiedene staatliche und nichtstaatliche Akteure und Institutionen das Bedürfnis zu haben, Archive zu übernehmen und eindimensionale Geschichten zu erzählen. Dies sind seltsame und traumatische Zeiten, in denen die sozialpolitische, kulturelle und materielle Beschlagnahmung von Archiven häufig mit Brutalität gegenüber der Zivilbevölkerung, nicht-menschlichen Akteuren und der Natur einhergeht. Es ist eine Situation, die an ähnliche aus der Vergangenheit erinnert, in der Ideen, Einrichtungen, Geschichte und Erinnerungen unter Verdacht gerieten. Jedoch ist sie einzigartig durch ihre extreme Geschwindigkeit, Unsicherheit und Hypermedialisierung. Anstatt die Existenz von pluralen, verwobenen Erzählungen zu feiern, die von einer in Dialog und Debatte engagierten Zivilgesellschaft zeugen, scheinen (Selbst-)Zensur, Unterdrückung und Verleugnung das Gebot der Stunde zu sein. Gleichzeitig, und dies ist das Paradox, wimmelt es in den Arenen der postfaktischen Welt (oder der „Meine-Wahrheit“-Blase) von Geschichten die um ‚Likes‘ und algorithmische Prominenz wetteifern. Wir erleben einen explosiven Cocktail aus Stimmen, Bildern und Informationen. Unzählige Berichte werden weit und breit geteilt, dennoch wird es immer schwieriger sie aufzunehmen oder zu verarbeiten, geschweige denn sie in Kontext zu setzen, zu analysieren oder historisch einzuordnen. Liegt es an der Beschleunigungslogik des Kapitalismus und dem Zwang der Medien zu immer neuen und spektakuläreren Inhalten? An unserer Verwandlung in gleichgültige Subjekte innerhalb eines erodierten Anscheins einer sozialen Welt, die uns ständig überwacht und sensorisch angreift? An einer Unfähigkeit, auf Geschichte, Erinnerungen und Zeugnisse, die nicht mit persönlichen Identitäten und der politischen Vorstellung übereinstimmen zu hören oder sich in sie hineinzuversetzen? Und/oder an einem noch bisher unvorstellbaren konzeptionellen Rahmen, durch den wir Berührungspunkte, Übersetzungskommunikation und Empathie zwischen verschiedenen Archiven artikulieren können?

Um von der Stille zu sprechen:

Ich beabsichtige, die Vielzahl der Bedeutungen des Archivs aufzuzeigen: eine Ressource, ein Raum, ein Material, in dem Wissen gespeichert ist und auf seine Aktivierung wartet. Ein epistemologisch-diskursiver Rahmen, der Ideen denkbar, ausdrückbar und darstellbar macht und das zu jedem historischen Zeitpunkt. Ein Rechtskonzept, das sich als Gesetz institutionalisiert und die Ausübung einer bestimmten sozialen oder politischen Ordnung ermöglicht. Gemäß diesen Definitionen offenbart ein Archiv nicht alles und entsteht tatsächlich teilweise durch die Produktion von Stille. Michel-Rolph Trouillots Silencing the Past: The Power and Production of History, ein Buch, das heute noch genauso aktuell ist wie bei seiner Veröffentlichung im Jahr 1995, erinnert uns daran, dass: „Stille in vier entscheidenden Momenten beim Enstehungsprozess von Geschichte aufscheint: dem Moment der Faktenerstellung (die Erstellung von Quellen); dem Moment der Faktenzusammenstellung (die Erstellung von Archiven); dem Moment des Faktenretrievals (die Erstellung von Narrativen); und dem Moment der retrospektiven Bedeutung (dem Entstehen von Geschichte im letzten Fall).“[1] Trouillot hebt die verschiedenen Kräfte und Machtverhältnisse heraus, die die Produktion von Geschichte organisieren, und gewisse Episoden sichtbar und andere ununterscheidbar machen. Aus heutiger Sicht gewinnt seine Diagnose an Komplexität durch die Beiträge von Theoretikern und Praktikern, die analysiert haben wie sich Modernität und Kolonialität in den letzten dreißig Jahren gegenseitig entwickelt haben. Wir alle sind gleichzeitig Akteure, Subjekte und Erzähler verflochtener Geschichten der Moderne und Kolonialität mit all ihren noch nicht entfalteten Nachwirkungen, nachklingenden Phantomen und Urschreien. Wie nehmen wir unsere eigenen blinden Flecken sowie die epistemologischen Einschränkungen unserer Vorgänger wahr, um uns in dieser Konstellation von Rollen zu positionieren? Wie kommunizieren wir Geschichten im Widerspruch zum offiziellen Narrativ, kanonischen Berichten und universalisierten Doxas, die die Erfahrungen der Moderne und Kolonialität in verschiedenen regionalen Kontexten organisiert haben? Wie können wir die Unmöglichkeit des Archivs aufzeigen ­– seine begrenzte Fähigkeit unparteiisch zu sein – da bestimmte Geschichten immer von verschiedenen Mechanismen der Macht zurückgehalten werden?

Um das binäre System von Rede und Stille zu überwinden:

Unsere multikulturelle und ethno-nationalistische Welt braucht dringend Geschichtenerzähler, Barden, Griots, Kobzari, Dengbêjs, Troubadoure, Kathakars, Ashiks, Skalden, Fabulierer und noch unbenannte Protagonisten, die die Lücken und blinde Flecken unserer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erforschen. Auch wenn mein Begriff der unerzählten Geschichten mit einer nicht-hierarchischen Verbreitung von Stimmen, Körpern, Objekten, Diskursen, Gespenstern und Materialien aller Art resoniert, müssen wir dennoch darauf achten, dass Schweigen nicht nur durch die Regulierungsmechanismen eines diskursiven Regimes, durch Gesetzesausübung oder durch andere Techniken und Strukturen des Interpretationszwangs organisiert wird. Es kann auf individueller Ebene auch ein Überlebensmechanismus sein, der als Reaktion auf politische Formationen und persönliche Zwänge entwickelt wurde. Menschen, ebenso wie Archive, wollen – brauchen – oder werden in verschiedene sozial und politisch konstruierte Formen der Zurückhaltung oder Stummheit gezwungen.[2] Daher können wir über das binäre System von Rede und Stille als aktiv und passiv hinausgehen und sie als ein Zusammenspiel betrachten, das Teil einer laufenden Machtkonkurrenz ist. Rede und Stille sind miteinander verflochtene Operationen in einer breiteren Konstellation der Performativität, die auch Verschlüsselung, Euphemismus, Subtext, Versprecher, Doppelsprache, Humor, List und Kommunikation durch andere Mittel beinhaltet. Das Projekt der unerzählten Geschichten zielt darauf ab, isolierte, marginalisierte, abweichende, übersehene oder ausgelöschte Elemente der Geschichte auf neuartige Weise zu artikulieren, zu visualisieren, aufzuführen, zu verkörpern oder auszudrücken. Es erkennt an, dass bestimmte historische Spuren tatsächlich auf Wegen und durch Taktiken bewahrt und übermittelt wurden, die die (menschliche) Äußerung und bürokratische Dokumentation umgehen. Zudem erforscht es, wie Schweigen oder Rückzug nicht mit Apathie oder Vergessen gleichzusetzen sind, sondern als produktive Handlungskräfte innerhalb von Systemen und Strukturen fungieren können, die durch den modernen/kolonialen Nationalstaat und den heutigen Sicherheitsstaat geschaffen wurden.

Um durch alternative Nervensysteme „zu beleben“

Das Thema des Archivs ist das Eigentum: Geschichten und Erinnerungen als juristisches, nationales, wirtschaftliches, politisches und moralisches Eigentum und die Auswirkungen auf künstlerische Praktiken und Verzweigungen weit darüber hinaus. Wenn wir uns vom Archiv des Nationalstaates und seinem Nachkommen, dem Sicherheitsstaat, entfremden wollen, ist es an der Zeit, sich verschiedene andere Verständnisse vorzustellen, in denen Zugehörigkeit und Anerkennung nicht auf Herkunft, Nationalität oder Staatsbürgerschaft beruhen. Welche noch unerzählten Geschichten könnten entstehen, wenn man den modernen/kolonialen Nationalstaat und seine Archive als Nervensysteme statt als logozentrische Modelle begreift, und welche künstlerische Ausdruckweise würde ihnen eine Form geben? Und vor allem, gibt es die Möglichkeit einer peripatetischen oder tentakulären Verbindung zwischen Lebensformen, Gemeinschaften und Kosmologien?[3] Um eine verborgene oder schlummernde Vergangenheit zu beleben und zu revitalisieren, müssen wir sicherlich Kommunikationsformen entwickeln, die auf nicht-menschlichen Ontologien der Zeit basieren. Wenn wir die primäre Organisationsmatrix unserer Gegenwart nicht auf den Nationalstaat stützen und uns stattdessen mit der vielfältigen und pluralen Zeitlichkeit des Planeten synchronisieren, erschließen sich uns alternative Zeitbegriffe.[4] Wie können wir die unerzählten Mikro- und Makronarrative, die in der Biosphäre eingebettet sind und sich auf verschiedenen Zeitskalen überschneiden künstlerisch artikulieren? Und wie werden diese Narrative, die sowohl von Menschen als auch nicht-menschlichen Akteuren in einer horizontal verteilten, nichtlinearen Dynamik verfasst werden, aussehen, klingen, schmecken und vielleicht sogar riechen?

Um einfühlsame Gegenseitigkeiten im Hinblick auf eine gemeinsame Zukunft zu schaffen

Dieser Essay ist eine Aufforderung Archive als gemeinschaftliche Ressourcen und nicht als Vermögenswerte Einzelner zu betrachten, Irrtum über Herkunft zu stellen, Verwundbarkeit über Unbesiegbarkeit zu setzen und Überfluss der Knappheit vorzuziehen. Dies mag ein äußerst schwieriger, schmerzhafter und kontraintuitiver Weg sein. Insbesondere unter den gegenwärtigen Zwängen des techno-militärisch-kapitalistischen Archivs, das das Recht auf Geschichte und Erinnerung als Nullsummenspiel von Gewinnern und Verlierern und das Recht auf Leben als von Zweckdienlichkeit, Profitabilität und Sicherheit abhängig darstellt. Wir können zwar nicht wissen wohin uns die Verflechtung mit alternativen Nervensystemen führen wird, aber es ist ein kleiner Schritt, den wir tun müssen wenn wir einfühlsamer Gegenseitigkeiten zwischen den vielfältigen Archiven, noch nicht erzählten Geschichten und planetarischen Ökosystemen schaffen wollen, die unsere gemeinsame Zukunft ausmachen.

[1] Trouillot, Michel-Rolph. (1995) Silencing the Past: The Power and Production of History. Boston: Beacon Press, 26.

[2] Glenn, Cheryl. (2004) Unspoken: A Rhetoric of Silence. Carbondale: Southern Illinois University Press.

[3] Haraway, Donna J. (2016). Tentacular Thinking: Anthropocene, Capitalocene, Chthulucene. Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene. Durham: Duke University Press.

[4] Dimock, Wai Chee. (2006). Through Other Continents: American Literature Across Deep Time. Princeton University Press, und (2020). Weak Planet: Literature and Assisted Survival. Chicago: University of Chicago Press.