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12.9. - 14.10.
THE NEUTRAL
Wien/Vienna

Essay

Fragmentierte Subjektivität

Im Übergang von der Moderne zur Postmoderne vollzieht sich ein grundlegender Wandel in der kulturellen Pathologie, bei dem die Entfremdung des Subjekts durch die Fragmentierung des Subjekts abgelöst wird, so Fredric Jameson Anfang der 1990er Jahre.1 Heute haben wir die Postmoderne, ob und was auch immer sie war – eine Negation der Moderne, ihre Radikalisierung, das Ende der Geschichte, ihr Anfang – längst hinter oder vor uns gelassen. Und dennoch scheint Jamesons Diagnose vor dem Hintergrund der sich stetig ausdifferenzierenden Machtmechanismen und Subjektivierungsmaschinen des globalen Kapitals sowie der multiplen politischen Krisen und ihrer zunehmend fragmentierten Wahrnehmung durch digitale Technologien – noch immer zutreffend. Wenn „fragmentierte Subjektivität“ also weiterhin der pathologische Modus der Gegenwart ist, wie der Titel des diesjährigen Curated by Festivals suggeriert, stellt sich die Frage, wie sie sich unter den Vorzeichen der veränderten ökonomischen, politischen und ästhetischen Bedingungen formiert – und welche Potenziale, Widersprüche und Fallstricke sie in sich trägt. Die folgenden Gedankenfragmente geben keine abschließenden Antworten, sondern sind Bruchstücke zeitgenössischer Zusammenhänge, die dazu einladen, die Ambivalenzen fragmentierter Subjektivität in einer digital und ökonomisch vermittelten Gegenwart zu denken, und diesem Denken eine Form zu geben: die Form des Fragmentarischen.

Fragmentierung, Entfremdung, Angst

Laut Jameson ist die Verschiebung von der Entfremdung zur Fragmentierung des Subjekts untrennbar verbunden mit dem Schwinden der negativen Affekte der Moderne: Angst, Schrecken und das Sein zum Tode werden durch die positiven Begriffe der Euphorie, des Rausches und der halluzinogenen Intensität ersetzt. Zugleich weichen die Kategorien der Zeit denen des Raums – eine grenzenlose Verräumlichung, die die Fähigkeit zur zeitlichen Organisation und damit das Verhältnis zur Geschichte außer Kraft setzt. An die Stelle der Erfahrung des Hier und Jetzt tritt die Aura des Simulakrums, die Gegenwart und Geschichte mit dem distanzierten Zauber eines „glossy image“ versieht. Und inmitten dieser ästhetischen Simulation befindet sich das fragmentierte Subjekt „in a countercultural ‘bad trip’ in which psychic fragmentation is raised to a qualitatively new power, the structural distraction of the decentered subject now promoted to the very motor and existential logic of late capitalism itself.”2

In einer simulierten Gegenwart, in der Geschichte verdrängt und faschistische Fantasien hyperreal werden, die ihr glänzendes Bild in einem KI-generierten Studio-Ghibli Deportationscartoon findet, mag das alles bekannt und aktuell klingen. Und doch fühlt sich der bad trip im heutigen „Spätkapitalismus“, der sich wohl präziser als „Hochkapitalismus“ beschreiben lässt, sehr anders an. Die allgemeine Dysphorie und Entfremdung – als Symptome der Abstraktionen des Kapitals und strukturelle Bedingung sozialer Medien – scheinen Jamesons Hypothese vom Schwinden der negativen Affekte zu widersprechen. Tatsächlich sind die „ugly feelings“3  der Moderne, die „Gefühle der Entzauberung“, die einst eine radikale Entfremdung vom System der Lohnarbeit markierten, nicht verschwunden, sondern im Postfordismus auf perverse Weise veräußert und von der kapitalistischen Produktion in Dienst genommen – wie etwa Paolo Virno schreibt: „Fears of particular dangers, if only virtual ones, haunt the workday like a mood that cannot be escaped. This fear, however, is transformed into an operational requirement, a special tool of the trade. Insecurity about one’s place during periodic innovation, fear of losing recently gained privileges, and anxiety over being ‘left behind’ translate into flexibility, adaptability, and a readiness to reconfigure oneself.”4

Aufgrund seiner eigenen Dynamik und Anpassungsfähigkeit kann das Kapital die Negativität, die es selbst produziert, verschleiern und verzerren, integrieren und verwerten. Und doch tragen diese negativen Affekte ein widerständiges Moment, denn sie verweisen auf reale soziale Antagonismen, und als Symptome auf jenen Ort, an dem der Kapitalismus nicht funktioniert, wo er vor dem Subjekt versagt. Was, wenn wir fragmentierte Subjektivität also nicht als Befreiung von negativen Affekten, als positive Intensität, sondern als Negativität, als Symptom begreifen? Vielleicht erweist sie sich dann nicht nur als Logik und Motor, durch die sich das Kapital reproduziert, sondern zugleich als jene Kraft, die seine Mutationen stört. Die Kunst könnte ein Ort sein, um diese Ambivalenz von Fragmentierung und Entfremdung erfahr- und sichtbar zu machen.

Aufmerksamkeit und Zerstreuung

Bereits vor dem Zeitalter digitaler Netzwerkgesellschaften verwies Jameson auf die medialisierte (Selbst-)Erfahrung des fragmentierten Subjekts, auf die messiness der permanenten Unterbrechung und Zerstreuung des Lebens. Die Temporalität der Videokunst fasste er dabei als „something like Benjaminian ‘distraction’ raised to a new and historically original power“.5 Diese Beschreibung der Zerstreuung der Aufmerksamkeit findet einen Widerhall in Jonathan Crarys Darstellung der Moderne als fortwährender Prozess der Krise und Reorganisation der Aufmerksamkeit, in dessen Verlauf sich Subjektivität unter den Bedingungen eines expandierenden Kapitalismus immer wieder neu formiert. Aufmerksamkeit und Ablenkung werden dabei gleichermaßen an neue Grenzen getrieben, während parallel neue Techniken zu ihrer Steuerung und Regulierung entstehen.6 Innerhalb dieses Prozesses hat Kunst, wie Peter Osborne betont, historisch verschiedene Funktionen eingenommen: „as a form of distraction; as the very opposite of distraction/entertainment; and more recently as the model for a more complicated form of ‘distracted attention’”.7

Doch obwohl bereits Walter Benjamin erkannte, dass Kunst nicht nur im Modus der Kontemplation, sondern auch in Zuständen der Zerstreuung wirksam sein kann, bleiben Vorstellungen der Rezeption von Kunst bis heute weitgehend von der Ideologie der kontemplativen Versenkung und Absorption bestimmt. Eine solche Form fokussierter und hierarchischer Aufmerksamkeit, die auf die Aneignung und Beherrschung des betrachteten Objekts abzielt, wurde von Claire Bishop zuletzt als „normative attention“ bezeichnet, der sie die „hybride Aufmerksamkeit“ der digitalen Gegenwart gegenüberstellt: gleichzeitig präsent und vermittelt, live und digital, flüchtig und vertieft, individuell und kollektiv. Im Versuch einer Historisierung von Gegenwartskunst erläutert Bishop verschiedene Strategien, mittels derer Künstler*innen auf die veränderten Rezeptions- und Produktionsbedingungen von Kunst reagieren, darunter Aggregation (Installationen, die mehr Material versammeln, als kognitiv verarbeitet werden kann), Duration(Performances, die sich über Wochen erstrecken), und Disruption (Interventionen, die primär für mediale Zirkulation konzipiert sind).8

Auch Bishop erinnert daran, dass Aufmerksamkeit untrennbar mit Vorstellungen von Subjektivität verbunden ist. Das moderne Subjekt normativer Aufmerksamkeit, das seinen Blick fixiert und sein Objekt beherrscht, erscheint als Subjekt des Eigentums, der Kontrolle und der optischen Souveränität, des aufgeklärten Bewusstseins. Demgegenüber lässt sich das zeitgenössische fragmentierte Subjekt – zerrissen zwischen Aufmerksamkeit und Zerstreuung, zwischen Sehen und Gesehenwerden – vielleicht als jenes der Entfremdung und des optischen Scheiterns begreifen: als Subjekt des Unbewussten.

Fragmentierung im Feld der Anschauung

Der Begriff der fragmentierten Subjektivität ruft das Bild des zerstückelten Körpers in Jacques Lacans Aufsatz über das Spiegelstadium auf, das jenen Moment bezeichnet, in dem das Kind zum ersten Mal sein eigenes Spiegelbild erkennt, und dessen Anblick ein Gefühl der Körperbeherrschung und Identität vermittelt. In der Identifizierung mit diesem Bild kompensiert das Kind die eigene Fragmentierung – eine Identifizierung, die eine Andersheit in das Subjekt einträgt und zu einer Spaltung führt, die sich niemals überbrücken oder reduzieren lässt. 

Insofern das Bild geteilt und instabil ist, gibt es auch einen Verlust und eine Problematik, die der Sprache anhaftet. Für Lacan ist die Sprache kein neutrales Medium der Kommunikation zwischen Subjekten, vielmehr produziert die Sprache Subjekte, indem sie diese in ihren immanenten Antagonismus, in ihre eigene Widersprüchlichkeit und Unmöglichkeit verwickelt. Wenn das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert ist, so hört es nie auf, unsere Sicherheit im Beurteilen eines Bildes als vollkommen oder entstellt, unser Vertrauen in die Sprache als wahr oder falsch, unsere Identitäten als männlich oder weiblich in Frage zu stellen.

Für künstlerische und kuratorische Praktiken, die sich dem Problem fragmentierter Subjektivität stellen, rückt der Zusammenhang zwischen dem Scheitern visueller und sprachlicher Repräsentation und der ontologischen Unsicherheit der Sexualität in den Fokus – „um die fixierte sexuelle Identität als Phantasie aufzudecken und, in derselben Geste, zu beunruhigen, aufzubrechen oder das visuelle Feld vor unseren Augen zu zersprengen.“9

Negativität gegen Identität

Dem ursprünglich gespaltenen Subjekt der Psychoanalyse steht die Behauptung eines ungebrochenen Subjekts gegenüber, wie sie in einigen aktuellen identitätspolitischen Diskursen formuliert wird. Während die Psychoanalyse die dem Subjekt eingeschriebene Entfremdung und Nicht-Identität als Punkt politisiert, an dem das Subjektive und das Soziale, das Persönliche und das Politische konvergieren, versprechen liberale Identitätspolitiken die Befreiung der Identität von Nicht-Identität, d.h. die Abschaffung von Differenz. Auch die zeitgenössische Kunst scheint Zuflucht in dem Versprechen stabiler, authentischer Identität zu suchen, die sowohl als Ausgangspunkt als auch als Ziel künstlerischen und politischen Handelns gesetzt wird.

Ein Ausweg aus diesem Dilemma kann aber wohl kaum darin bestehen, wie Dean Kissick vorschlägt, sich in eine von jeglichem politischen Bewusstsein befreite, träumerische Irrationalität zu retten und sich mit dem Hinweis zu befrieden: „We are irrational, incoherent beings, and artists and writers should embrace this once more. […] You are free to dream anything. To build different worlds, to whisper enticements in many ears, to try to destroy reality […] There is still so much to imagine.“10 Zum einen hat die aktuelle Zunahme von Ausladungen, Zensurmaßnahmen und Förderungsbeendigungen im Kunst- und Kulturbetrieb mehr als deutlich gemacht, dass „inkohärente Künstler*innensubjekte“ eben nicht „frei sind, alles zu träumen“ – etwa ein freies Palästina.  Zum anderen erfordert die Konstruktion anderer Welten mehr als nur die falschen, magischen Illusionen der Fantasie; sie verlangt, daran erinnerte uns Marina Vishmidt immer wieder, die Negativität der Spekulation. In der finanzialisierten Gegenwart, in der das spekulative Potenzial der Kunst untrennbar mit den spekulativen Logiken des Finanzmarkts verbunden ist, entsteht die Fähigkeit der Kunst, sozial spekulativ zu wirken, dort, wo Identitäten nicht bestätigt, sondern aufgebrochen werden – durch Prozesse der „dis-identification, exacerbation and singularization“.11 Spekulation ist demnach kein rein offenes Denken in Möglichkeiten, sondern ein widersprüchlicher, konflikthafter Prozess, der sich gegen die bestehenden Verhältnisse wendet. Wie Zoe Sutherland schreibt: „The subject cannot be found through ‘identity thinking’ nor ‘wished away’ through theoretical ruptures; only overcome through a living, social praxis, which necessarily unfolds as ‘painful contradiction’. The capital relation might be the social horizon of the reproduction of identities, but this horizon is not totalising; it is contradictory and constitutively incomplete.”12

Fragment und Desaster

In einer Gegenwart schmerzhafter Widersprüche lässt das Fragmentarische diese Widersprüche denken und gibt dem Denken in Widersprüchen eine Form. Für Maurice Blanchot ist das fragmentarische Schreiben eine Zurückweisung des Gesetzes des Nicht-Widerspruchs, denn es ist durch den Widerspruch, dass er sein Schreiben vom Gesetz der Vollendung befreit. 

„Wenn alles gesagt ist, bleibt das Desaster zu sagen, Ruin des Sprechens, Ohnmacht durch die Schrift, ein murmelnder Tumult: was restlos übrigbleibt (das Fragmentarische).“13 In einer Gegenwart des Desasters, in der das Desaster nicht gesagt werden darf, könnte das Fragmentarische vielleicht die Form sein, das Unmögliche zu sagen und der Ohnmacht zu entgehen.

 

Sophia Roxane Rohwetter

Wien, Mai 2025

 

Fredric Jameson, Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism (Durham: Duke University Press, 1991), S. 14.

2 Ebd., S. 117.

3 Vgl. Sianne Ngai, Ugly Feelings (Cambridge (Mass.) / London: Harvard University Press, 2005).

4 Paolo Virno, zitiert nach ebd., S. 4.

5 Jameson, Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, S. 87.

6 Vgl. Jonathan Crary, Suspensions of Perception: Attention, Spectacle, and Modern Culture (Cambridge, MA: MIT Press, 1999), S. 13–14. 

7 Peter Osborne, Anywhere or Not at All: Philosophy of Contemporary Art (London/New York: Verso, 2013), S. 178.

8 Vgl. Claire Bishop, Disordered Attention: How We Look at Art and Performance (London/New York: Verso, 2024).

9 Jacqueline Rose, Sexualität im Feld der Anschauung (Wien: Turia und Kant, 1997), S. 231.

10 Dean Kissick, „The Painted Protest: How politics destroyed contemporary art”, Harper’s Magazine (Dezember 2024), S. 23–30.

11 Marina Vishmidt, „Art, Value, Subjects, Reasons. Some Aspects of Speculation as Production”, in: Simon Baier and Markus Klammer (Hgs.), Aesthetics of Equivalence (Berlin: August Verlag, 2023), S. 123.

12 Zoe Sutherland, Against running in place: The speculative thought of Marina VishmidtRadical Philosophy 218, Spring 2025, S. 47.

13 Maurice Blanchot, Die Schrift des Desasters [1980] (München: Wilhelm Fink, 2005), S. 47. 

 

Essay Curated by 2025
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