Galerie Martin Janda
curated by Dieter Roelstraete
Dieter Roelstraete ist Kurator des Neubauer Collegium for Culture and Society an der University of Chicago, wo er auch unterrichtet. Seine jüngsten Projekte am Neubauer Collegium umfassten Arbeiten von Gelitin, Rick Lowe, Pope.L, Martha Rosler, Cecilia Vicuna und Christopher Williams. Zuvor arbeitete er als Kurator für die documenta 14 in Kassel und Athen im Jahr 2017. Davor war er Manilow Senior Curator am Museum of Contemporary Art Chicago (2012-2015), wo er neben anderen Ausstellungen The Way of the Shovel: Art as Archaeology (2015); The Freedom Principle: Experiments in Art and Music 1965 to Now (2015); und Kerry James Marshall: Mastry (2016) organisierte und mitorganisierte. Von 2003 bis 2011 war Roelstraete Kurator am Museum van Hedendaagse Kunst Antwerpen in seinem Heimatland Belgien. In den letzten Jahren kuratierte er Ausstellungen in der Fondazione Prada in Mailand und Venedig, Garage (Moskau) und S.M.A.K. (Gent); 2022 entwarf Roelstraete den kuratorischen Impuls für das diesjährige curated_by gallery festival in Wien. Er hat in zahlreichen Katalogen und Zeitschriften über zeitgenössische Kunst und damit verbundene philosophische Fragen veröffentlicht.
Nilbar Güreş, 1977 geboren in Istanbul (TR), lebt und arbeitet in Wien (AT), Neapel (IT) und Istanbul (TR).
Devin T. Mays, 1985 geboren in Detroit (US), lebt und arbeitet in Chicago (US).
Martha Rosler, 1943 geboren in Brooklyn, New York (US), lebt und arbeitet in Brooklyn, New York (US).
Roman Signer, 1938 geboren in Appenzell (CH), lebt und arbeitet in St. Gallen (CH).
Fredrik Værslev, 1979 geboren in Moss (NO), lebt und arbeitet in Drøbak (NO).
FRICTIONS
Im Zentrum von FRICTIONS treffen die Besucher*innen auf eines der am leichtesten erkennbaren, allgegenwärtigen Objekte, die die Menschheit kennt; auf einer Stufe mit dem Verkehrskegel oder (das sind keine zufälligen Beispiele) dem Monoblock-Gartenstuhl: eine hölzerne Transportpalette – oder besser gesagt, eine ganze Menge davon.
Im Erdgeschoß bilden hölzerne Transportpaletten die primären Bausteine für eine provisorische skulpturale Installation von Devin T. Mays (geb. 1985, lebt und arbeitet in Chicago und Houston), für den die Palette zu einem charakteristischen Material geworden ist, das die Praxis des Künstlers direkt im historischen Kontinuum einiger der grundlegendsten formalen Fragen der Bildhauerei verankert. Eine dieser Fragen ist zum Beispiel: Können Podeste und/oder Sockel Teil einer Skulptur sein? Kann man Transportpaletten transportieren? Wie viel détournement im situationistischen Sinne des Wortes macht ein Kunstwerk aus? Oder: Ist ein objet jemals wirklich trouvé? (Etcetera) Im Untergeschoß hat sich Fredrik Værslev (geb. 1979, lebt und arbeitet in Oslo), was wie ein Haufen Holzpaletten aussieht, angeeignet und sie zu „Leinwänden“ für seine ironischen, alltäglichen Experimente mit malerischer high end-Abstraktion gemacht, die sich zwischen verboten minimalistisch und knallig maximalistisch bewegen. Dreht man sie auf die Seite und montiert sie in einigem Abstand von der Wand, erinnern diese bespritzten Holzstrukturen – Værslev nennt diese Arbeiten seine „Garden Paintings“ – unweigerlich mehr an Zäune als an irgendetwas anderes (Grenzen, Begrenzungen, Einschränkungen). Mit anderen Worten: Was in der Galerie im Erdgeschoß noch recht einfach als Kommentar zum unermüdlichen Fiebertraum der globalen Wirtschaft vom unaufhörlichen, reibungslosen Fluss von „Waren“ über Land und Meer – dem Wunder der Bewegung – lesbar ist, bekommt unten einen dunkleren Anstrich, der uns daran erinnert, dass sich Menschen (zunehmend!) nicht ganz so frei um den Globus bewegen wie die Früchte ihrer Arbeit.
Ein zugegebenermaßen recht simpler und rudimentärer Grund für die Verbindung zweier sehr unterschiedlicher Kunstpraktiken – einer, der eindeutig die „Form“ über den „Inhalt“ stellt – wird zum Hintergrund für eine facettenreiche, mäandernde Reflexion über einige der bestimmenden Paradoxien unserer Zeit: Eine Ära, die die ständige Mobilisierung (Handel) von allem und jedem fordert, die jedoch den Begriff „Transit“ in eine unausweichliche Stasis verwandelt hat – in die Gleichförmigkeit des Menschen inmitten des Kommens und Gehens von Materie und „Zeug“. Neue und ältere Arbeiten von Nilbar Güreş (geb. 1977, lebt und arbeitet in Wien und Neapel) und Martha Rosler (geb. 1943, lebt und arbeitet in New York) thematisieren die menschlichen Kosten unserer Erwartung, dass „alles Feste sich in Luft auflöst“, wie Marx und Engels einst eine der kardinalen „Tugenden“ des Kapitalismus einprägsam charakterisiert haben. Rosler ist seit langem eine passionierte Chronistin des alltäglichen, banalen, menschlichen Dramas des Kommens und Gehens, wie eine Auswahl alter und neuer Fotoarbeiten (plus ça change) beweist, während Güreş' Arbeiten sich mit dem Epos des Diasporalebens und der Migration auseinandersetzen – grundlegende, immer wiederkehrende Motive im Schaffen einer Künstlerin, die aus einer der größten Hafenstädte der Welt stammt, der Hauptstadt der Sehnsucht, dem heutigen Istanbul. Zwei Fotoarbeiten von Roman Signer (geb. 1938, lebt und arbeitet in Sankt Gallen), welche die für den Schweizer Künstler charakteristischen, spielerischen Experimente mit Energien und Bewegungen aller Art dokumentieren, erinnern an eine alternative Bewegungsgeschichte, die zum fundamentalen Versprechen der Kunst als „experimentelle Ausübung der Freiheit“ gehört, wie es der brasilianische Kunstkritiker Mario Pedrosa einmal einprägsam nannte: eine Übung im Traum von Flucht.
Im ersten Absatz ihres kuratorischen Meta-Statements, das die aktuelle Ausgabe des Galerie-Festivals curated_by begleitet, stellt Noit Banai fest: „Wir sind jetzt im dritten Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts, und trotz – oder gerade wegen – der Behauptung, dass die Globalisierung ein Rekordhoch erreicht hat, scheinen verschiedene staatliche und nichtstaatliche Akteure und Institutionen das Bedürfnis zu haben, Archive zu übernehmen und eindimensionale Geschichten zu erzählen“ – Grenzen zu schließen und Entwicklungen aufzuhalten. Im Gegensatz dazu streben Künstler*innen danach, in den Grenzgebieten zu bleiben, und halten sowohl Dinge als auch Menschen für immer in Bewegung – in einem ständigen Zustand der Bewegung und der Emotionen: Flux und Fluss sind ewig, ungeachtet aller Friktionen.
Dieter Roelstraete
Media
Bilder
Nilbar Güreş, Contaminated Pina Colada, 2021, oil on canvas, 50 x 40 cm
Photo: kunst-dokumentation.com
Installation view, Fredrik Værslev at Johan Berggren Gallery, Malmö, 2012
Image courtesy of the artist and Johan Berggren Gallery, Malmö
Roman Signer, Schweben, 1995, b&w photograph, 60 x 40 cm, Edition 10/10 + 3 E.A.
Courtesy Galerie Martin Janda, Vienna