
VIN VIN Gallery
curated by Marie Griffay
Marie Griffay lebt in Frankreich und arbeitet seit fünfzehn Jahren als Kuratorin und Direktorin für zeitgenössische Kunstsammlungen. Die enge Zusammenarbeit mit Künstlern ermöglicht es ihr, Kunstwerke aus verschiedenen Zeiträumen miteinander zu verbinden und sich bei jeder neuen Ausstellung auf den Kontext zu konzentrieren. Als Kunsthistorikerin schreibt und lehrt sie.
In her artistic work, Ouassila Arras questions cultures of memory, biographies and narrative structures and illustrates accesses to and exclusions from society. Ouassila often works with everyday objects and natural materials that, due to their transformability, bring life into the exhibition space and can be read as a metaphor for biographies that gain little access to the Western and European canon or are largely silenced by the enormous pressure to integrate into societies. She is mainly concerned with the subliminal information that objects and metaphorically people carry with them and embody when they inhabit places. Ouassila traces the threads of fragmented life stories, especially of people whose voices are missing from textbooks and archives.
Kevin Hunt is an artist with a sculptural practice, independent curator and lecturer based in Liverpool. He was a director of The Royal Standard, an artist-led gallery, studios and social workspace in the city (2007-11), co-founded CAVE, an artist-led art fair that coincided with the opening of Liverpool Biennial (2012) and co-curated MODEL, a flexible, experimental research based platform for artist-led activity programmed to run concurrently with Liverpool Biennial (2014).
Octave Rimbert-Rivière cherishes matter. He worships it and coaxes it, flattering it as one caresses the flank of an animal that is gradually domesticated. Tenderly, he cultivates a fleshly relationship with it. And his growing interest in digital potential does not in any way virtualize his practice, which remains fiercely anchored in the tangible. It remains touching. It marries pottery and new technologies. For him, any creation is the product of collages. His clay is drawn from the depths of the dark web, and is smeared with fun, by hand. If the sculptor regularly visits the digital world — and we cannot insist enough on the tactile dimension of the term ‘digital’ — it is to experiment with the modelling that such a tool allows, as would a potter’s rib. The computer is a vector of distortion, a machine to hack an archetypal form. The artist transforms the glitch into porcelain, pouring electronic flux and liquid clay into molds. In turn, his mugs and teapots both contain and spill. The glazes ooze, crackle, split. They bubble too. There is no limit to the amount of crust they can produce, because in ceramics, it’s always firing. From this angry magma, it is a question of creating functional objects, which are truly useful. This unblocks them from the exhibition space, and after having exported them a first time from the screen, frees them even more to simply irrigate life, in a race towards the concrete. To escape plinths, to crack the codes, to break the boxes. The function liberates the work.
Joël Riff, december 2022

Incomplete Works: From the Fragment on Display to the Display of Fragments
Im Jahr 1821 feierte die Venus von Milo einen spektakulären Auftritt im Louvre. Mit ihrer offensichtlichen, entwaffnenden Sinnlichkeit wurde die Göttin ohne Arme, in einem fragmentierten Zustand, ausgestellt – und stellte damit unser Schönheitsverständnis infrage. 1970 wurde Auguste Rodins Der Denker, der sich vor dem Cleveland Museum of Art befindet, durch eine Bombenexplosion an seinem Sockel „amputiert“. Das Museum entschied sich, das Werk in seinem beschädigten Zustand zu belassen. 2010 wurde ein Fragment einer Skulptur von Emy Roeder, das 1937 in der Münchner Ausstellung Entartete Kunst gezeigt und 1944 unter Trümmern eines Bombenangriffs verschüttet worden war, bei archäologischen Ausgrabungen wiederentdeckt. Der Kopf von Roeders Schwangere Frau wird seither ohne den unwiederbringlich zerstörten Körper gezeigt.
Diese drei Beispiele zeugen von subjektiven Entscheidungen von Museen, beschädigte oder zerstörte Werke nach dem Tod ihrer Urheber*innen zu zeigen – und so neue Erzählungen zu konstruieren. Aus der kollektiven Entscheidung, diese Werke in ihrem posttraumatischen Zustand zu belassen, gezeichnet von Wunden, Mängeln und fehlenden Teilen, entsteht eine neue Geschichte: eine Geschichte von Transformation und Widerstandskraft. In all ihrer Verletzlichkeit ausgestellt, erscheinen die fragmentierten Werke zutiefst menschlich.
Im Kontrast zu diesen institutionellen Subjektivitäten zeigt die Ausstellung Incomplete Works: From the Fragment on Display to the Display of Fragments Arbeiten von Künstler*innen, die sich von dieser Ästhetik des Fragments inspirieren lassen und Fragmente bewusst auswählen oder sublimieren.
Seit über fünf Jahren versetzt Ouassila Arras alleine eine Mauer aus Betonblöcken in jene Ausstellungsräume, die sie eingeladen haben – so viele Tage lang, wie es die Raumausmaße zulassen. Die von ihr ausgeführte Performance ist enorm, anstrengend, repetitiv. Dennoch ist sie lediglich ein Fragment der körperlichen Anstrengungen, die ihr algerischer Vater über vierzig Jahre auf französischen Baustellen geleistet hat. Der Mörtel der Mauer wird durch Henna ersetzt – ein Symbol der Mutter –, dessen hartnäckiger, orangefarbener und duftender Abdruck auf dem Boden eine Landkarte der fortlaufenden Grenzverschiebung nachzeichnet. Zum ersten Mal hat sich Ouassila Arras nun entschieden, Fragmente dieses gefärbten Bodens an die Wand zu hängen – eine einzigartige Verschiebung oder Bewegung entsteht. Auf dem Boden der Galerie liegen rostrote Betonplatten, von derselben Größe wie die Pflastersteine mancher Wiener Straßen, über die die Besucher*innen gehen sollen. Die Bewegung durch den vermeintlich ruhigen, offenen Galerieraum wird radikal verändert: Die Skulptur gibt unter den Füßen nach, Stabilität schlägt in Schwindel um.
Die Skulpturen aus Kevin Hunts Serie COUNSEL entlehnen ihre Form diskreten architektonischen Details: den geschwungenen Ornamenten an den Fassaden mancher modernistischer Bauten, die in England nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurden. Diese Fragmente, die im Alltag leicht übersehen werden, interpretiert Kevin Hunt neu und stellt sie aus, um die Rolle von Ornamentik in architektonischen Strukturen – und damit auch die Stellung des Randständigen in normativen Städten – zu hinterfragen. In Resonanz zu dieser Serie zeigt Kevin Hunt auch Lowkey, skulpturale Schlüsselanhänger, deren Formen auf das nie realisierte Freibad und Kino in Speke, einem Vorort von Liverpool, Bezug nehmen – jenem Ort, in dem der Künstler aufwuchs. Der Baustopp dieser Freizeiteinrichtungen, ebenso wie eines Krankenhauses, verdeutlicht die Abkehr von der utopischen Idee einer autonomen, nach dem Vorbild der Gartenstadt geplanten Peripherie hin zur Realität einer bloßen Schlafstadt.
Octave Rimbert-Rivière widmet sich seit über zehn Jahren der Keramik. Was als unbefangenes, autodidaktisches Experiment begann, hat sich zu einer verfeinerten und professionellen Auseinandersetzung mit dem Material entwickelt. Seine Formen haben sich verändert: Skulpturen wichen Vasen, Tassen und Teekannen, die das Verhältnis von Kunst und Handwerk auf geschickte Weise neu konfigurieren. Die Objekte entstehen aus digitalen Modellen, die er bis zur Erschöpfung bearbeitet, um unerwartete Deformationen zu erzeugen – Formen, die normalerweise in computergenerierten 3D-Modellen nicht vorkommen. Die Objekte werden aus durchgefärbtem Porzellan gefertigt und glasiert, wobei ihre Oberflächen bewusst verändert werden – erneut wird die visuelle Kontinuität der ursprünglichen Form gebrochen. Indem er weder Kunst noch Handwerk bevorzugt und digitale Designtools ebenso wie traditionelle handwerkliche Techniken unterläuft, schafft Octave Rimbert-Rivière hybride, unregelmäßige Skulpturobjekte, die die Spannung zwischen virtueller und materieller Welt sichtbar machen.
Die Ausstellung selbst ist dem Unmöglichen unterworfen – dem Versuch, eine vollständige Sammlung von Werken zum Thema des diesjährigen Festivals curated by– Fragmented Subjectivity zusammenzuführen. Sie bleibt notwendigerweise unvollständig. Neben der Venus von Milo, Roeders Schwangere Frau, Rodins Denker – und dessen unverzichtbarem filmischem Gegenstück Nightlife von Cyprien Gaillard – hätte auch Lisbon hier gezeigt werden können: eine Fotografie aus der Sammlung des MAMCO, aufgenommen 1991 von readymades belong to everyone / Marc Blondeau / Philippe Thomas, als Hommage an den portugiesischen Dichter Fernando Pessoa und dessen hundert Heteronyme. Ebenfalls Teil der Ausstellung ist ein Buch von Daniel Bosser: Philippe Thomas déclinés son identité, das dazu einlädt, in die vielfältigen Subjektivitäten eines fragmentierten Werks einzutauchen.
– Marie Griffay, 2025
Media
Bilder
Kevin Hunt, COUNSEL (set in stone) white version II - Blistered, vacuum formed ABS thermoplastic (unique work in 2 parts) - 2022
Courtesy of the Artist
Kevin Hunt, lowkey - Machined aluminium sculptures hanging from readymade clips, fixings, chains & various uncut, skeleton & jiggler keys - 2022
Courtesy of the Artist
Kevin Hunt, lowkey - Readymade clips, fixings, chains & various uncut, skeleton & jiggler keys from which a machined aluminium sculpture hangs - 2022
Courtesy of the Artist
Ouassila Arras, UNDER LINE, 2021 - ongoing, ciment & rust
Courtesy of the artist and Kunstlerhaus Bethanien Berlin
Photo: David Brandt